[Rezension] Julia Weber: Immer ist alles schön (Das Debüt 2017)

Anais liebt ihre Mutter, sie liebt ihren Bruder Bruno und insgeheim auch Peter aus der Schule. Die Mutter sagt, das Leben sei eine Wucht, und dass sie gerne noch ein Glas Wein hätte. Denn es hält ihren Sehnsüchten nicht stand, das Leben, und die Männer halten ihrer Liebe nicht stand. Das Tanzen, das sie liebt, ist zum Tanz an der Stange vor den Männern geworden. Es ist nicht einfach, so ein Leben zu leben, sagt die Mutter, darum will sie noch ein Glas.

Anais und Bruno versuchen sich und die Mutter zu schützen vor der Außenwelt, die in Gestalt von Mutters Männern mit Haaren auf der Brust in der Küche steht. Oder in der Gestalt von Peter, der ihre Wohnung seltsam findet und nichts anfangen kann mit den tausend, auf der Straße zusammen gesammelten Dingen. In Gestalt eines Mannes vom Jugendamt, der viele Fragen stellt, sich Notizen macht, der Anais und Bruno betrachtet wie zu erforschendes Material, und in Gestalt einer Nachbarin, die im Treppenhaus lauscht. Je mehr diese Außenwelt in ihre eigene eindringt, desto mehr ziehen sich die Kinder in ihre Fantasie zurück. (Inhaltsangabe: Limmat Verlag)

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Julia Weber wurde 1983 in Tansania geboren, zog aber zwei Jahre später mit ihrer Familie nach Zürich, wo sie auch heute noch mit Mann und Kind lebt. Weber studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und ist Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert„. Außerdem rief sie den Literaturdienst ins Leben. „Immer ist alles schön“ ist ihr erster Roman.

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Anais und Maria – zwei starke Stimmen in ihrer eigenen Welt

Julia Weber gibt in ihrem Debütroman zwei ganz besonderen Protagonistinnen eine Stimme. Da ist zum einen die ungefähr zwölfjährige Anais. Als Ich-Erzählerin ist sie ganz in der Gegenwart und schafft sich aber doch ihre eigene Realität fernab der Norm, ohne die typischen gesellschaftlichen Muster und Rollenbilder. Denn ihre Familie passt nicht in eine solche Norm. Manchmal, da wünscht sich Anais allerdings eine ganz normale Mutter.

Sehr schön, sagt sie. Fantastisch, sagt sie. Wunderbar, sagt sie. […] Es ist wirklich schön, sage ich. […] Immer ist alles schön, sagt Bruno.
Julia Weber – Immer ist alles schön, Seite 6

Maria, die Mutter, lebt in der Vergangenheit. In Anais Gegenwart ist sie oft abwesend, wenn nicht körperlich, dann in Gedanken. Sie raucht, trinkt, tanzt nachts in einem Etablissement. Am Morgen stehen manchmal fremde Männer in der Küche, die die Nacht im Gold von Marias Schlafzimmer verbringen durften. Auch die Kinder – Anais und ihr jüngerer Bruder Bruno, der „kleine grimmige Professor“, die sich die Welt bedeuten – dürfen immer einmal wieder zwischen die seidene Goldbettwäsche der Mutter schlüpfen. Dann ist alles gut.

Maria selbst erzählt von ihrer Vergangenheit, von ihrer Jugend, der Entstehung von Anais und Bruno, dem Leben mit „der Füchsin“, der eigenen Mutter, deren Reaktionen und Vorstellungen für das ideale Leben ihrer Tochter bei Maria Spuren hinterlassen haben. Viele dieser Erlebnisse lassen die Maria der Gegenwart in einem anderen Licht erscheinen.

„Immer ist alles schön“ wird durch Julia Webers Schreibstil zu etwas Lebendigem

Weber schreibt mit einer unglaublichen dichten Sprache, die die jeweiligen Parts von Mutter und Tochter fast schon wie einen inneren Monolog erscheinen lassen, in den wir als Leser nur dank Julia Weber Einblick gewinnen können. Hält man Maria zunächst für eine Rabenmutter, wird in ihren eigenen Passagen schnell klar, wie sehr sie ihre Kinder liebt – und wie sehr sie diese Liebe ängstigt.

Wir könnten behaupten, dass wir die chemischen Reaktionen in unserem Hirn kennen, dass wir wissen, was wir betrachten müssen, um glücklich zu sein.
Julia Weber – Immer ist alles schön, Seite 184

Immer ist alles schön“ ist etwas Lebendiges, das mit jedem Wort wächst und gedeiht, an Größe und an Komplexität zunimmt. Ein dichtes, fast schon undurchdringliches Konstrukt, welches auf eine bedrückend faszinierende Weise die eigene Kindheit wieder emporsteigen lässt. Kindliche Unbedarftheit gibt es selbst in der Welt von Anais und Bruno, vielleicht gerade aufgrund ihres Lebensstils, bei dem die Flucht vor der Realität in eine kindliche Phantasiewelt der einzige Weg ist, alles zu verarbeiten und zu ertragen, selbst die Spinnfäden, die von den Decken hängen und einen daran erinnern, dass der Kopf noch da ist, wo er hingehört. Weber malt mit ihren Worten Bilder in den Kopf des Lesers, die so schnell nicht wieder verschwinden.

Ein Roman, der Spuren hinterlässt

In Julia Webers Debütroman treffen zwei Realitäten aufeinander. Zum einen das uns bekannte Ideal des Familienlebens und des Alltags – unter anderem verkörpert durch den Riesen vom Jugendamt, der mit seinem Notizblock bewaffnet versucht, ein wenig Normalität in die Familie um Maria, Anais und Bruno zu bringen. Zum anderen die ganze eigene Ordnung und Lebensweise, die sich die Familie geschaffen hat; eine Phantasiewelt in den eigenen vier Wänden, die von Dschungel, Meer und Wüste geprägt wird.

Wenn wir das hier nicht hätten, sage ich, würden wir mehr und mehr zu Maschinen werden, mit der Zeit, ganz langsam, ohne es zu bemerken. Das hier ist unsere Freiheit.
Julia Weber – Immer ist alles schön, Seite 80

Immer ist alles schön“ kommt zart und leise, fast schon einfach gestrickt daher, und entfaltet erst nach und nach sein ganzen Potential. Ein Buch, das seine Spuren hinterlassen wird, genau wie die Kindheit, Vergangenheit und Gegenwart von Maria, Anais und Bruno Spuren in ihrem Leben hinterlässt. Ein Buch, welches uns die Facetten des Menschlichen näher bringt und vielleicht sogar den Anreiz gibt, Dinge die von der Norm abweichen mit anderen Augen zu sehen.

Immer ist alles schön von Julia Weber
256 Seiten (Hardcover)
Verlag: Limmat Verlag
Erschienen: Februar 2017
ISBN: 978-3-85791-823-0

Ich bedanke mich ganz herzlich bei Das Debüt und beim Limmat Verlag für das so freundlich
zur Verfügung gestellte elektronische Leseexemplar.

3 Gedanken zu “[Rezension] Julia Weber: Immer ist alles schön (Das Debüt 2017)

  1. Wunderbar, danke Katja – das hat mich richtig lesehungrig gemacht!

    Da werde ich wohl gleich tatsächlich durch Berlins momentanen Gewittersommer zu meinem Lieblingsbuchladen laufen …

    Ganz herzlichen Dank für diese Anregung und eine sorglose, lesefutterreiche Zeit
    Bianka

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