Don verwandelt sich vor den Augen seiner Frau in einen Baum. Ronda hält Goldfische, die nicht bleiben wollen. Die Zwillinge aus dem dritten Stock sind gar keine. Doch von Toni und Bell wissen alle. Die Menschen in Nummer 29 sind seltsam verschworen, kennen sich dabei kaum und teilen längst nicht jedes Geheimnis.
Im Haus mit der Nummer 29 wohnt zuallererst Rita, fast so alt wie das Haus selbst. Sie ist Beobachterin, Schlichterin und Richterin, ein Knotenpunkt mit geheimnisvollen Fähigkeiten und Absichten. Außerdem das Ehepaar Lina und Don, deren Liebe auch Dons fundamentale Verwandlung ziemlich fruchtbringend überdauert. Es gibt einen unbemerkten Mitbewohner, der sich im Aufzug einnistet, es gibt ein Kind, das sich durch Mauern beißt, und eine Wohnung, die ihre Mieter förmlich verschluckt. Rita sieht, was keiner zeigt, und sie versteht, was keiner sagt. Doch bevor sie ihr Wissen weitergeben kann, ist die kleine Maia auf rätselhafte Weise verschwunden. (Inhaltsangabe: Verlag Klaus Wagenbach)
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Juliana Kálnay wurde 1988 in Hamburg geboren, lebt und schreibt aber inzwischen in Kiel. Nach Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften und dem Erhalt des Arbeitsstipendium Literatur der Kulturstiftung des Landes Schleswig-Holstein 2016 ist „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ ihr erster Roman.
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Ein Haus, das als Verbindung wirkt
Die Welt in dem Haus mit der Nummer 29 ist eine ungewöhnliche, wundersame Welt. Als Bewohner einer Mietswohnung beobachtet man ein Kommen und Gehen, kam selbst einmal, und wird die vier Wände vielleicht auch wieder verlassen. Diese Wände jedoch, die erinnern sich an die Vorgänger.
Ähnlich wie Rita. In der Hausgemeinschaft ist sie das Urgestein, kennt jeden oder meint jeden zu kennen, und trägt das Haus einer Schnecke gleich auf dem Rücken. Jede Veränderung, die vonstatten geht, spürt sie in ihren Knochen. Als eine der Erzählstimmen möchte der Leser Rita Glauben schenken. Doch wie verlässlich sind die Auskünfte einer Frau, die ihre Mitmieter mittels eines Spiegels auf ihrem Balkon beobachtet? Was entspringt Ritas Phantasie? Was sind Tatsachen?
Manch einer hat Dinge erlebt in diesem Haus, die andere vielleicht als ungewöhnlich betrachten würden. Manchmal reden alle durcheinander und fallen sich ins Wort. Und manchmal, wenn etwas geschehen ist, das alle betrifft, frage ich herum und versuche herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Denn alles habe ich nicht gesehen in diesem Haus.
Juliana Kálnay – Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens, Seite 6
Ungewöhnlich, das sind die Bewohner der Nummer 29 allemal. Es gibt die chronisch Schlaflosen, die nachts auf Geräusche lauschen, und Lina, deren Mann als Baum auf dem Balkon lebt und Früchte trägt, welche sie zu Marmelade verarbeitet. Nina und ihr Bruder, deren Eltern auf einmal nicht mehr auftauchen. Maia, die verschwunden ist und sich schon immer gerne in Erdlöchern versteckt hat. Zwillinge, die vielleicht doch nur ein und dieselbe Person sind. Ein Mann, der im Fahrstuhl seine Wohnung hat. Ein Junge, der von den Wänden einer verlassenen Wohnung verschluckt wird. Kinder, die ihre Fundsachen allwöchentlich in einer Grillpfanne verbrennen, ganz fasziniert von der Macht des Feuers.
Ungewöhnliche Figuren und eine skurrile Realität
Grotesk und rätselhaft gezeichnete Figuren und Handlungen bestimmen Kálnays Roman, und doch erscheint das gesamte Konstrukt federleicht und zart. Mit dem Haus als Verbindung malt die Autorin das Leben der Bewohner in kleinen, zusammenhanglosen Episoden, die jedoch immer wieder den Ton der vorangegangen Geschichte aufgreifen und weiterspinnen. Seite um Seite entsteht so ein wahres Wirrwarr vor dem Auge des Lesers, als hätte man nur im Vorbeigehen einen kurzen Blick durch eine offene Tür geworfen.
Die Faszination des Romans macht vor allem die Zartheit aus, mit der Kálnay ihre Figuren und Geschichten zeichnet. Sanfte, fast schon mythische Beschreibungen zeugen von dem Respekt, den die Autorin ihrer Erzählung und den Charakteren darin entgegen bringt. Oft nur wenige Worte ergeben ein faszinierendes Bild. Die eigene Vorstellungskraft ist nicht nur gefordert, sie darf sich frei ausleben. Mit ihrem skurrilen Realismus überlässt es Kálnay dem Leser selbst, wie sich auf die Geschichte eingelassen wird. Und ähnlich wie die Erzählstimme oft auf jeder neuen Seite einer anderen Person gehört, so liest jeder „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ auf seine Weise.
Chronisch Schlaflose haben einen Sinn für die Illusion. Sie behandeln Hoffnungsfunken wie Rettungsseile, werfen Lotteriescheine ein, reden von Träumen wie von Erlebnissen und verknüpfen lose Ereignisse zu einer guten Geschichte.
Juliana Kálnay – Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens, Seite 54
„Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ ist ein poetisches Werk voller rätselhafter Figuren, deren einzige Gemeinsamkeit und Verbindung das Haus ist, in dem sie wohnen. Viel bleibt im Ungewissen, doch um sich auf den Zauber und den Sog dieses Buches einzulassen, braucht es kein komplettes Verständnis. Juliana Kálnay hat ein kleines Schmuckstück geschaffen, welches mit den Versionen der Realität spielt und die Möglichkeit, mit gekonnt gewählten Worten und zarten Beschreibungen beeindruckende Bilder zu skizzieren, vollends ausnutzt. Ein Buch, welches immer wieder neue Einblicke gewähren wird, wie oft man es auch liest.
Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens von Juliana Kálnay
192 Seiten (Hardcover)
Verlag: Klaus Wagenbach
Erschienen: Februar 2017
ISBN: 978-3-8031-3284-0
Ich bedanke mich ganz herzlich bei Das Debüt und beim Verlag Klaus Wagenbach für das so freundlich zur Verfügung gestellte elektronische Leseexemplar.
Das Buch gibt es noch bis zum 06. Januar 2018 auf meinem Blog gewinnen.
Werft dafür ein Auge auf diesen Post.
4 Gedanken zu “[Rezension] Juliana Kálnay: Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens (Das Debüt 2017)”