[Rezension] Hermann Stefánsson: Guðjón Ólafssons Zeitreise als Laborratte

Der Schriftsteller Guðjón Ólafsson wacht im Krankenhaus auf, ohne Sprache und ohne Erinnerung daran, wie und warum er dorthin gekommen ist. Sein Vater hilft ihm, den Weg zurück in die Wirklichkeit zu finden, doch um welche Wirklichkeit geht es eigentlich?

Allmählich gewinnt Guðjón seine Sprache wieder und findet heraus, dass Helena, die ihm sein Vater als seine Freundin vorstellt, und er am europäischen Kernforschungszentrum CERN in der Schweiz einem durch Medikamente unterstützten Experiment unterzogen worden sind, bei dem es um Zeitreisen in die Vergangenheit ging…

„Die Versuche des Menschen, die Welt um sich herum zu verstehen, ist eine der wenigen Dinge, die das Leben aus der Flachheit der Farce zu tragischen Höhen emporhebt.“
– Steven Weinberg –

Guðjón Ólafssons Zeitreise als Laborratte“ von Hermann Stefánsson erschien in Island bereits im Jahre 2008, und hat nun endlich auch den Weg auf den deutschen Buchmarkt gefunden.

Ich hatte von Beginn an sehr große Erwartungen an dieses Buch gestellt. Zum einen hat mich bereits der Titel angesprochen, zum anderen natürlich die Erwähnung von CERN. Wenn man, wie ich, selbst eher im Forschungslabor zu Hause ist, dann erscheint ein solches Buch fast schon wie ein Geschenk des Himmels.

Im Vergleich zu anderen aktuellen Veröffentlichungen ist das Cover von „Guðjón Ólafssons Zeitreise als Laborratte“ eher schlicht gehalten, aber meiner Meinung nach würde Stefánssons Werk allein aus diesem Grund in einer Buchhandlung auffallen, denn dezent in Grautönen gehaltene Cover sind heutzutage schon eher eine Seltenheit.

Von der ersten Zeile an zieht einen Steffánssons Werk in seinen Bann. Es ist wunderschön zu lesen, bietet wundervolle Formulierungen, ist mal einfach gehalten, und dann plötzlich wieder hoch philosophisch und wissenschaftlich.

„Weiße Welt stürzt ihm ins Bewusstsein, konfus und fremd. Fragmentarisches Erkennen, verschwommene Grenzen zwischen dem einen Gedanken und dem nächsten.“

Es gelingt dem Autor Guðjóns Verwirrtheit direkt nach dem Aufwachen auf faszinierende Weise sprachlich darzustellen. Verdrehte Worte und Buchstaben wechseln sich mit zusammenhanglosen Gedankenfetzen ab, und lassen es dem Leser ähnlich ergehen wie der eigentlichen Hauptperson.

Guðjóns als Charakter erweist sich als ungemein faszinierend, ist er sich doch seiner eigenen Identität oft selbst nicht sicher. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wird, sind sowohl sein Langzeit- als auch sein Kurzzeitgedächtnis schwer angegriffen. Er vergisst viele Dinge sofort wieder, stellt ständig die selben Fragen, die ihm sein Vater immer wieder beantworten muss. Vor dieser Vaterfigur hatte ich von der ersten Minute an großen Respekt, stellt er sich doch dieser ungemein schweren Aufgaben, die alles an Geduld und Gemütsruhe fordert, die ein Mensch aufweisen kann.

Wechsel zwischen Ich- und Er-Perspektive zeigen zusätzlich als sprachliche Mittel Guðjóns Schwierigkeiten in Sachen Identitätsfindung auf. Er leidet an Flashbacks; macht oft keinen Unterschied zwischen sich selbst und erfundenen oder historischen Persönlichkeiten, in deren Leben er während seiner Anfälle (Ausfälle?) er episodenhaft Einblick gewinnt.

Neben Guðjón fungiert Helena ebenfalls als wichtiger Charakter, der immer mehr Raum einnimmt und Guðjón zeitweise als Erzähler ablöst. Im Gegensatz zum ihm wirkt sie normal, ihre Textpassagen unterscheiden sich deutlich von Guðjóns, sind klarer, direkter und weniger verworren gehalten. Doch bald schon ereignen sich auch in ihrem Leben Dinge, die Fragen aufwerfen – bei ihr und beim Leser.

Und Fragen stellt sich der Leser bei diesem Roman wohl ständig. Was ist real? Was ist Fiktion? Handelt es sich bei dieser oder jener Szene um etwas, das tatsächlich in der realen Welt geschieht, oder doch nur um eine von Gudjons Episoden? Nach und nach kommt Licht ins Dunkel. Das Voynich-Manuskript, Schrödingers Katze als Symbol für einen zeitlosen Wahrscheinlichkeitsraum, Quantenmechanik, Teilchen – all dies beginnt sich zu einem großen Ganzen zusammenzufügen.

„Traum und Wirklichkeit sind eins geworden, die Zeit legt sich quer, schließlich aber verläuft sie sich.“

Hermann Stefánsson hat mit „Guðjón Ólafssons Zeitreise als Laborratte“ einen Roman geschaffen, der sich an wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Amnesie und den Gesetzmäßigkeiten der kleinsten Teilchen der materiellen Welt orientiert, und daraus eine Geschichte formt, die so anders ist, so besonders, so faszinierend, das es kaum passende Worte zu geben scheint, um dieses Werk wirklich gebührend zu würdigen. Kein einfacher Roman, aber in meinen Augen ein wahrer Diamant, der all jene, die sich die Zeit nehmen um in Guðjóns Welt einzutauchen, mit auf eine unvergessliche Reise nimmt.

bewertung 5 sterne

Guðjón Ólafssons Zeitreise als Laborratte von Hermann Stefánsson
Algleymi
256 Seiten (Broschiert)
Verlag: litteraturverlag roland hoffmann
Erschienen: September 2011
ISBN: 978-3-940331-07-6
24,90 €
Bezogen werden kann das Buch HIER auf der Verlagswebseite.

Ich bedanke mich ganz, ganz herzlich beim litteraturverlag roland hoffmann und bei Blogg dein Buch für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.

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