[Rezension] Niah Finnik: Fuchsteufelsstill

Die siebenundzwanzigjährige Juli steht mitten im Leben – manchmal sogar ein bisschen zu sehr. Sie ist Autistin und jeder Tag bedeutet eine gewaltige Masse an Emotionen, die es zu meistern gilt. Als Juli nach einem missglückten Suizidversuch auf eine psychiatrische Station kommt, trifft sie dort auf die überschwänglich-herzliche Sophie und auf Philipp, der mal mehr und mal weniger er selbst, aber stets anziehend für Juli ist. Die drei nehmen Reißaus und verbringen ein gemeinsames Wochenende, nachdem nichts mehr so ist wie zuvor. (Inhaltsangabe: Ullstein Buchverlage)

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Niah Finnik, geboren 1988, studierte Industriedesign und ist, wie die Protagonistin ihres Debütromans „Fuchsteufelsstill“ (2017) Autistin. Ihre besondere Sicht auf die Welt kennzeichnet auch Finniks Schreiben. Inzwischen arbeitet sie an weiteren Romanprojekten.

Das Autismus-Spektrum und seine Facetten

Bei Autismus bzw. der Autismus-Spektrum-Störung handelt es sich um eine vielgestaltige, komplexe neurologische Entwicklungsstörung, bei der zwischen Frühkindlichem Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischem Autismus unterschieden wird, wobei der Begriff Autismus-Spektrum-Störung immer mehr die frühere Klassifikation ablöst, da die Übergange zwischen den früher bekannten „Krankheitsbildern“ immer fließender werden. In erster Linie handelt es sich um eine Störung der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die die soziale Interaktion, die Kommunikation und das soziale Verständnis beeinflusst.

Psychische Störungen dagegen waren unsichtbar. Jeder hatte schon einmal Trauer, Angst und Freude erlebt, doch diese Gefühle waren nicht eins zu eins auf die Symptome einer psychischen Krankheit übertragbar. Freude glich keiner Manie, Trauer war weit von einer Depression entfernt, und Unsicherheit hatte nichts mit Autismus gemeinsam. Trotzdem dachte jeder, er könne mitreden. Ich hatte keinen Schimmer, warum Zwanghaftigkeit und Hysterie eine Krankheit waren, Intoleranz dagegen nicht.
(Niah Finnik: Fuchsteufelsstill, Pos. 1580-1584)

So komplex wie Autismus in all seinen Facetten, so vielfältig sind auch die Betroffenen. Finniks Hauptperson Juli findet Farben anstrengend – Reizüberflutung ist eine typische Begleiterscheinung – aber analysiert sich selbst. Gemütszustände definiert sie in Prozenten, Routinen und feste Abläufe sind ihr Anker, um durch den Tag zu kommen. Fehlt ein Teil ihrer Routine, wie zum Beispiel eine Zutat für das Frühstück, so isst Juli nicht. Der Ausbruch aus Mustern bedeutet für Juli das Aufleben ihrer Angst. Neue und unbekannte Dinge lassen ihre Angst Gestalt annehmen – ein pelziges Tier mit Krallen, das sie verfolgt.

Wo ist die Grenze zwischen normal und verrückt?

In der Tagesklinik, die sie nach ihrem Selbstmordversuch besucht, trifft Juli – neben Mia aus der Galaxie Anorexie – auf zwei Personen, die ihr geregeltes, nach festen Strukturen verlaufendes Leben aus der Bahn werfen. Sophie, die an einer bipolaren Störung leidet, und immer wieder ins manisch-depressive verfällt, ist das genaue Gegenteil von Juli. Laut, energiegeladen, mutig, offen. Wo Juli zurückschreckt, nimmt Sophie die Dinge einfach in die Hand. Philipp, der dritte in diesem ungewöhnlichen Bunde, leidet an Schizophrenie, entfernt verdeutlicht durch seine unterschiedlichen Verhaltensmuster und Reaktionen.

Je mehr Zeit ich mit Menschen verbrachte, desto mehr schien ich mich in einen Igel zu verwandeln. Sobald das Chaos um mich herum zu groß wurde, rollte ich mich ein und versank in meinen Gedanken.
(Niah Finnik: Fuchsteufelsstill, Pos. 1451-1452)

Finnik könnte hier den Weg einschlagen, den viele Leser erwarten würden, und eine Geschichte erzählen, die letztendlich die Akzeptanz des Anders-seins vermitteln soll, denn Krankheiten definieren nicht den Menschen. Doch Finnik wählt eine andere Route. Ihre Charaktere streben nicht nach Verständnis. Warum auch? Irgendwie ist ja jeder Mensch ein bisschen verrückt, und wo genau ist denn die Grenze zwischen normal und verrückt?

Menschen, die von psychischen Krankheiten betroffen sind, werden oft mit den typischen Vorurteilen unserer Gesellschaft konfrontiert: Sie werden ausgeschlossen, missverstanden, sind selbst Schuld an ihrer Krankheit. „Stell dich nicht so an“ ist nur einer dieser Sätze, die diesbezüglich bestimmt schon einige Betroffene über sich ergehen lassen mussten. Es mangelt oft an Verständnis, denn anders als bei körperlichen Krankheiten ist hier der Gesundheitszustand oft nicht direkt erkennbar.

Fuchsteufelsstill ist ein Romandebüt, das sich mit seiner poetischen Leichtigkeit einem ernsten Thema widmet

Trotz der doch eigentlich ernsten Thematik verhilft Finniks Schreibstil „Fuchsteufelsstill“ zu einer gewissen Leichtigkeit. Fast schon poetisch beschreibt sie die Welt, die Juli sieht. Als eher gehemmter, ruhiger und verschlossener Mensch ist Juli eine nüchterne Beobachterin, doch die Flut von Fakten und Bildern, die selbst kleine Worte in ihrem Kopf auslösen, ist überwältigend. Julis Welt ist wie das Bild ihrer „Krankheit“ ein Spektrum voller Reize, Farben, Fakten, Menschen. Ein Spektrum, das sie oft zu überwältigen droht.

Wenn das Gehirn durch einen Defekt gestört wurde, hieß das vor allem, keine Wahl zu haben. Es war unmöglich, eine Auszeit von sich selbst zu nehmen, ebenso unmöglich war es, alle Gedanken und Taten zu kontrollieren. Manche passierten einfach.
(Niah Finnik: Feuchsteufelsstill, Pos. 965-966)

Die Handlung in „Fuchsteufelsstill“ mag manchmal etwas absurd wirken, doch letztendlich ist es Julis Geschichte, ihre Welt, wie sie sie wahrnimmt. Das Trio Juli, Sophie und Philipp bewegt sich aus seiner Komfortzone heraus, entflieht seinen Mustern und Strukturen, ist aber nie gänzlich frei. In „Fuchsteufelsstill“ beeindruckt Niah Finnik mit ihrem wundervoll poetischen Schreibstil, der uns eine Gedankenwelt näherbringt, die so komplex ist, dass es manchmal schwer wird wirklich jedes Detail zu erfassen. Zwischen all den Sinneseindrücken findet Finnik einen Mittelweg, der diesen Roman zu etwas ganz Besonderem macht: Zu einem kleinen literarischen Schatz.

Fuchsteufelsstill von Niah Finnik
304 Seiten (Klappenbroschur)
Verlag: Ullstein
Erschienen: April 2017
ISBN: 9783961010035

Ich bedanke mich ganz herzlich beim Ullstein Verlag und Netgalley für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.

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7 Gedanken zu “[Rezension] Niah Finnik: Fuchsteufelsstill

  1. Liebe Katja,
    was für eine wunderschöne Rezension! Ich bin neugierig auf dieses Buch, seit ich es das erste Mal in der Vorschau sah. Du hast mich nun restlos davon überzeugt, dass ich es lesen muss 😄 Besonders den Weg, den die Autorin einschlägt, finde ich sehr sympathisch.
    Liebste Grüße,
    Anna

  2. Liebe Katja,
    eine wirklich sehr schöne Rezension 😊 Mich hat das Buch auch voll überzeugt und ich stimme dir in jedem Punkt zu! Niah Finnick hat wirklich ein einzigartiges Buch erschaffen!
    Liebste Grüße,
    Jenny

  3. Hi Katja,
    deine Rezension hat mir sehr gut gefallen. Ich glaube, dass ich das Buch alleine entdeckt hätte. Durch deine sehr einfühlsame und ausgewogene Meinung hast du mich neugierig gemacht. Zudem empfinde ich die Balance aus Zitaten und Abschnitten richtig gelungen.

    Liebste Grüßlies
    Nina

  4. Dieses Buch habe ich vor Kurzem aufgrund einer anderen Blogrezension gelesen und fand es ganz außergewöhnlich und auch verstörend. Habe es sehr knapp besprochen, würde gerne einen Hinweis auf deine ausführliche Rezension einbauen, wenn es dir recht ist. LG

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