[Rezension] Jonas Karlsson: Das Zimmer

Von unausstehlichen Kollegen umgeben, in ein Großraumbüro gepresst, kann Björn sein Glück kaum fassen, als er eines Tages ein kleines, geheimes Zimmer entdeckt. Ein Büro nur für sich, auf demselben Stockwerk, im Flur gleich neben der Tonne für das Altpapier und dem Aufzug. Hier drinnen sind das Chaos und die Enge der Bürowabenwelt vergessen, Björn hat plötzlich Spaß an seiner Arbeit. Alles wäre gut, gäbe es da seine Kollegen nicht. Die treibt Björns bizarres Verhalten fast zur Verzweiflung. Und zu allem Übel tun sie auch noch so, als existiere dieses Zimmer überhaupt nicht. (Inhaltsangabe: Luchterhand Literaturverlag)

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Der Schwede Jonas Karlsson, Jahrgang 1971, zählt in seinem Geburtsland zu den bekanntesten und angesehensten Schauspielern, und gewann bereits zweimal den schwedischen Filmpreis. In seinem schriftstellerischen Dasein hat er bereits Kurzgeschichtensammlungen, Romane und ein Theaterstück veröffentlicht, doch erst sein Roman „Das Zimmer“ brachte ihm auch internationale Bekanntheit ein.

Büroalltag – Arbeitswahn, Kaffeeklatsch, Zeitpläne

In der modernen Arbeitswelt entwickelt sich das typische Bild eines Büroangestellten schnell zu dem der entseelten Arbeitsdrohne, ein wandelnder Terminkalender, der roboterartig seine Tätigkeit verrichtet. Effizienz vor Individualität, und alles, alles für den Job.

Beschränkte Menschen sehen die Welt nicht, wie sie ist. Sie sehen nur, was sie sehen wollen. […] Sie entdecken die Fehler nicht, weil sie zu faul sind, um sich aus dem Alltagstrott herausreißen zu lassen. […] Solchen Menschen muss man ihre Unzulänglichkeiten vor Augen führen.
(Jonas Karlsson: Das Zimmer, Seite 24)

In der Behörde – die von Karlsson nie wirklich näher definiert wird – geht alles seinen gewohnten, ja, fast schon gemütlichen Gang. Kaffeepausen, mehr oder weniger organisiertes Chaos, der typische Tratsch zwischen Kollegen betten sich in das Rahmenkonstrukt aus standardisierten Arbeitsabläufen. Büroalltag. Der Chef hat das Sagen, gibt Anweisungen, die Angestellten erfüllen die an sie gestellten Aufträge.

Eine eher eintönige Kulisse für einen Roman, doch die Konformität wird je unterbrochen, als mit Björn ein neuer Mitarbeiter in der Tür steht. Er ist die Effizienz in Person, spornt sich mit einem ausgefeilten Zeitplan, in dem sogar der Gang zur Toilette eingetaktet ist, zu Höchstleistungen an, und treibt seine neuen Kollegen mit seinem pedantischen Ordnungsfimmel in den Wahnsinn. Björn ist kein Rädchen im großen Getriebe der Bürowelt. Er hat Ziele, Aufstiegswünsche, möchte hinter die Kulissen schauen, um letztendlich selbst eines Tages im Chefsessel zu sitzen. Als der Beste von allen.

(K)Ein Rädchen im Getriebe der Arbeitswelt

Als Ich-Erzähler fungierend lässt Björn weder seine Kollegen noch seinen Chef im besten Licht erscheinen. Doch schon bald wird dem Leser klar, dass man sich auf die Sichtweise des einsamen Helden keineswegs verlassen kann. Als unzuverlässiger Erzähler zeichnet sich Björn auf möglichst positive Weise, doch zwischen den Zeilen ist schnell klar, warum der seine alte Firma verlassen musste.

Du wendest nicht den Lauf eines Stroms, indem du ihn abrupt in die entgegengesetzte Richtung umlenkst. […] Du musst seine eigene Kraft auffangen und ihn langsam, aber sicher in die von dir gewünschte Richtung ziehen. Wenn der Bogen sanft genug ist, wird der Strom nichts davon merken.
(Jonas Karlsson: Das Zimmer, Seite 121)

Genau hier setzt Karlsson an und schafft ein wahres, kleines Kunstwerk. Wahn und Wirklichkeit beginnen aufeinander zu treffen, als Björn ein Zimmer entdeckt – klein, ohne Fenster, jedoch ordentlich und strukturiert – welches keiner seiner Kollegen sehen kann. Dort, wo sich für Björn eine Tür befindet, sehen alle anderen nur eine Wand. Perfide Psychospielchen, um den unerwünschten Workaholic loszuwerden, oder ist Björn in all seinem – sogar nächtlichen – Arbeitseifer endgültig dem Wahnsinn verfallen?

Perfektionismus und Wahn in der modernen Arbeitswelt: Ein Zimmer, wo keines ist

Geschickt mit dieser Ungewissheit spielend überlässt Karlsson es dem Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden, schürt Zweifel und Verwirrung. Ist Björn als Außenseiter und Eindringling in das bisher ganz wunderbar funktionierende Hamsterrad Büro so sehr bei seinen Kollegen verhasst? Wem soll man am Ende glauben?

„Gelinde gesagt“, begann ich, „könnte man sagen, dass ich reich arbeitstechnisch den größten Beitrag von uns allen leiste. Ich muss sagen, dass ich es deshalb mehr als angemessen finde, wenn ich Zugang zu einem eigenen Raum bekomme, und das Zimmer ist ein Ort, an dem ich das Gefühl habe, gut arbeiten zu können.“
(Jonas Karlsson: Das Zimmer, Seite 156)

Das Zimmer“ erweist sich als kunstvoll strukturierter Roman, der trotz seines eher einfach gehaltenen, aber fast schon philosophischen Schreibstils einen wahren Sog auf den Leser ausübt, ähnlich wie das mysteriöse Zimmer auf Björn. Hineingezogen in ein groteskes und fesselndes Konstrukt, in dem die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen, entfaltet sich ein dramaturgisches Meisterwerk inmitten der alltäglichen Arbeitswelt. Alltagsflucht? Psychoterror? Wahnvorstellungen? Mobbing? Das sollte der Leser für sich entscheiden.

Das Zimmer von Jonas Karlsson
Rummet
176 Seiten (Hardcover)
Übersetzung: Paul Berf
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Erschienen: April 2016
ISBN: 978-3-630-87460-9

Ich bedanke mich ganz herzlich beim Luchterhand Literaturverlag für das so freundlich zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.

 

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3 Gedanken zu “[Rezension] Jonas Karlsson: Das Zimmer

  1. Eine wundervolle Rezension, die mir Das Zimmer doch sehr nah gebracht hat. Ich mag es sehr, wenn man als Leser nicht alle Auflösungen präsentiert bekommt und durchaus selbst entscheiden kann, wie sich alles fügt. Dieser Roman passt sicher gut in unsere Zeit und er macht mich wirklich neugierig.

    Viele liebe Grüße

    Nisnis

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