Eine Gruppe junger Männer verbringt ein Wochenende auf einer Berghütte. Als sie ins Tal zurückkehren, sind die Ortschaften verwüstet. Die Menschen sind tot oder geflohen, die Häuser und Geschäfte geplündert, die Autos ausgebrannt. Zu Fuß versuchen sie, sich in ihre Heimatstadt durchzuschlagen. Sie funktionieren, so gut sie können. Tagsüber streifen sie durch das zerstörte Land, nachts durch ihre Erinnerung. Auf der Suche nach einem Grund, am Leben zu bleiben. Reicht das Aufrechterhalten der wichtigsten Körperfunktionen, um von sich selbst sagen zu können, man sei am Leben? Die Antwort, die das Buch gibt, wird uns womöglich nicht trösten. Aber sie macht atemlos vor Spannung. (Inhaltsangabe: Suhrkamp Verlag)
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Heinz Helle studierte in München und New York Philosophie, und veröffentlichte 2014 seinen Debütroman „Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin„. „Eigentlich müssten wir tanzen“ ist sein zweites Werk und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2015.
Wie die Zeit vergeht. Ich weiß nicht, wie das passiert. Ich habe keine Ahnung, wie das vor sich geht, was vor sich geht, welcher physikalische Prozess dieses Kippen verursacht, dieses Wanken und Fallen, vom Gleich ins Jetzt und dann und dann und dann.
(Seite 39)
Helle hat mit „Eigentlich müssten wir tanzen“ einen postapokalyptischen Katastrophenroman geschaffen ohne die eigentliche Katastrophe, die eigentliche Ursache, zu erwähnen.
Gemeinsam mit den fünf Hauptcharakteren wird der Leser mitten hinein geworfen in eine Welt, die sich von einer Sekunde auf die andere komplett verändert hat. So rettete der Aufenthalt in der Berghütte zwar das Leben der fünf Helden, stellt sie aber vor eine völlig neue und gänzlich unbekannte Aufgabe: den Kampf um das nackte Überleben, wenn alles was bisher zählte nichts mehr bedeutet, und vom früheren Leben nur noch Erinnerungen bleiben.
In diese Erinnerungen flüchtet sich der Ich-Erzähler immer wieder, während die Männer versuchen sich durchzuschlagen. Sie sind da, sie überleben, aber eben auch um jeden Preis. So bleibt das Mitgefühl oft auf der Strecke – die eigenen Triebe und Bedürfnisse, das eigene Vorankommen und Überleben zählen mehr als alles andere. Trauer, Entsetzen, Empathie – all das empfindet statt den Hauptcharakteren der Leser selbst.
Diese neue Welt der Zerstörung, die Überreste der Zivilisation und der langsame Zerfall der Menschlichkeit, all das bringt Helle mit einer fast schon kalten und sachlichen Art zu Schreiben auf das Papier. Er urteilt nicht, bewertet die Handlungen seiner Charaktere nicht. Er beschränkt sich auf das Beschreiben und Berichten und überlässt es dem Leser sich ein Urteil zu bilden.
Als es uns schlecht ging, wurden wir manisch. Jetzt geht es uns gut, und wir werden depressiv. Das ist doch immer so. Unser Gemüt stellt sich gegen die Welt da draußen. Ein Abwehrmechanismus. Das ist das normalste, das fundamentalste Prinzip des Seins. Wir sind alle Elektronen, jeder will das, was er nicht hat, wird, was er nicht ist, plus, minus, schwarz, weiß.
(Seite 57)
Helles Schreiben mag zunächst einfach wirken, entwickelt aber sehr schnell einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Ihm gelingt der Tanz auf dem schmalen Grat zwischen grausamen Tatsachenbericht und poetischem Bild der Hoffnung perfekt – denn die Hoffnung ist es, die seine Helden antreibt. Die sie zwingt immer weiter zu laufen. Bis zum Ende.
Alles in allem mögen wir diese Welt nicht mehr besonders. Trotzdem setzen wir weiter schön brav einen Fuß nach dem anderen in sie hinein.
(Seite 63)
„Eigentlich müssten wir tanzen“ beschreibt das Ende. Das Ende der Welt wie wir sie kennen. Und stellt eine alles entscheidende Frage: Was bleibt von uns, vom Menschen, von der sogenannten Menschlichkeit noch übrig, wenn die Normen der Gesellschaft und der Zivilisation nicht mehr greifen?
Helles Roman schockiert, fasziniert, bringt zum Nachdenken. Anstatt den Moralapostel zu spielen, bringt Helle den Leser dazu, sich selbst ein Bild zu machen, die eigenen Moralvorstellungen zu prüfen, und sich von der berühmten Frage des ‚Was wäre wenn…‘ gefangen nehmen zu lassen.
Wir stehen. Wir schauen. Wir schweigen.
(Seite 46)
„Eigentlich müssten wir tanzen“ wurde zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert. Ein poetischer Katastrophenroman, der einen nicht mehr loslässt, der aufrüttelt und seine Charaktere an ihre Grenzen und darüber hinaus führt – und das alles vor der Kulisse einer zerstörten Zivilisation, in der die Natur wieder zur einzigen großen Macht wird, deren Gewalt sich letztendlich alles beugen muss.
Eigentlich müssten wir tanzen von Heinz Helle
173 Seiten (Hardcover)
Verlag: Suhrkamp
Erschienen: September 2015
ISBN: 978-3-518-42493-3